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zum
ZEITGESCHEHEN
Dem Vergangenen: Dank!
Dem Kommenden: Ja!
Dag Hammarskjöld
Wenn die Propheten einbrächen
durch Türen der Nacht,
den Tierkreis der Dämonengötter
wie einen schauerlichen Blumenkranz ums Haupt gewunden -
die Geheimnisse der stürzenden und sich hebenden
Himmel mit den Schultern wiegend -
für die längst vom Schauer Fortgezogenen -
Wenn die Propheten einbrächen
durch Türen der Nacht,
die Sternenstraßen gezogen in ihren Handflächen
golden aufleuchten lassend -
für die längst im Schlaf Versunkenen -
Wenn die Propheten einbrächen
durch Türen der Nacht
mit ihren Worten Wunden reißend
in die Felder der Gewohnheit,
ein weit Entlegenes hereinholend
für den Tagelöhner
der längst nicht mehr wartet am Abend -
Wenn die Propheten einbrächen
durch Türen der Nacht
und ein Ohr wie eine Heimat suchten -
Ohr der Menschheit
du nesselverwachsenes,
würdest du hören?
Wenn die Stimme der Propheten
auf dem Flötengebein der ermordeten Kinder blasen würde,
die vom Märtyrerschrei verbrannten Lüfte ausatmete -
wenn sie eine Brücke aus verendeten Greisenseufzern baute -
Ohr der Menschheit
du mit dem kleinen Lauschen beschäftigtes,
würdest du hören?
Wenn die Propheten
mit den Sturmschwingen der Ewigkeit hineinführen
wenn sie aufbrächen deinen Gehörgang mit den Worten:
Wer von euch will Krieg führen gegen ein Geheimnis
wer will den Sterntod erfinden?
Wenn die Propheten aufständen
in der Nacht der Menschheit
wie Liebende, die das Herz des Geliebten suchen,
Nacht der Menschheit
würdest du ein Herz zu vergeben haben?
Nelly Sachs
Es siehet der Mensch
Mit dem welt-erzeugten Auge,
Ihn bindet, was er siehet
An Weltenfreude und Weltenschmerz,
Es bindet ihn an alles
Was da wird, aber minder nicht
An alles, was da stürzet
In Abgrundes finstre Reiche.
Es schauet der Mensch
Mit dem geistverliehnen Auge,
Ihn bindet, was er schauet
An Geisteshoffen und Geistes-Halte-Kraft,
Es bindet ihn an alles
Was in Ewigkeiten wurzelt
Und in Ewigkeiten Früchte trägt.
Aber schauen kann der Mensch
Nur wenn er des Innern Auge
Selber fühlet als Geistes-Gottes-Glied,
Das auf der Seele Schauplatz
Im Menschen-Leibes-Tempel
Der Götter Taten wirket.
Es ist die Menschheit im Vergessen
An das Gottes-Innere.
Wir aber wollen es nehmen
In des Bewußtseins helles Licht
Und dann tragen über Schutt und Asche
Der Götter Flamme im Menschenherzen.
So mögen Blitze unsre Sinneshäuser
In Schutt zerschmettern:
Wir errichten Seelenhäuser
Auf der Erkenntnis
Eisenfestem Lichtesweben,
Und Untergang des Außern
Soll werden Aufgang
Des Seelen-Innersten.
Das Leid dringet heran
Aus Stoffes-Kraft Gewalten,
Die Hoffnung leuchtet
Auch wenn Finsternis uns umwallt,
Und sie wird dereinst
In unsre Erinnerung dringen
Wenn wir nach der Finsternis
Im Lichte wieder leben dürfen.
Wir wollen nicht, daß diese Leuchte
Dereinst in künft'gen Helligkeiten uns fehle
Weil wir sie jetzt im Leide
Nicht in unsre Seelen eingepflanzet haben.
Rudolf Steiner
Den Berliner Freunden, 1923
Jeder kann etwas tun ..
( an Viele )
Ihr kennt sie, die Leidenschaft,
die uns verbindet:
Helfen, helfen, mit einer Kraft,
die alles überwindet.
( an Manche )
Ihr kennt es, das harte Leid,
heißt es entsagen,
mitzuwirken im Sturm der Zeit
zu neuem Gottestagen.
( an Einige )
Ihr kennt den Trost, der enttrübt,
die fern den Schranken : -
Werden draußen Taten geübt,
entsenden sie - Gedanken.
Christian Morgenstern
Die geistliche Waffenrüstung
Zuletzt:
Seid stark in dem Herrn und in der Macht seiner Stärke.
Zieht an die Waffenrüstung Gottes,
damit ihr bestehen könnt gegen die listigen Anschläge des Teufels.
Denn wir haben nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen,
sondern mit Mächtigen und Gewaltigen, mit den Herren der Welt,
die über diese Finsternis herrschen,
mit den bösen Geistern unter dem Himmel.
Deshalb ergreift die Waffenrüstung Gottes,
damit ihr an dem bösen Tag Widerstand leisten
und alles überwinden und das Feld behalten könnt.
So steht nun fest,
umgürtet an euren Lenden mit Wahrheit
und angetan mit dem Panzer der Gerechtigkeit
und beschuht an den Füßen, bereit für das Evangelium des Friedens.
Vor allen Dingen aber ergreift den Schild des Glaubens,
mit dem ihr auslöschen könnt alle feurigen Pfeile des Bösen,
und nehmt den Helm des Heils
und das Schwert des Geistes, welches ist das Wort Gottes.
Betet allezeit mit allem Bitten und Flehen im Geist
und wacht dazu mit aller Beharrlichkeit und Flehen
für alle Heiligen und für mich, dass mir das Wort gegeben werde,
wenn ich meinen Mund auftue,
freimütig das Geheimnis des Evangeliums zu verkündigen,
dessen Bote ich bin in Ketten,
dass ich mit Freimut davon rede,
wie ich es muss.
Paulus, an die Epheser, 6.10-10
KIRCHE ...
Analyse .. und, wie weiter ?
Gastbeiträge
„Noch fünf Jahre,
dann kollabiert das System Kirche“
12. Dezember 2022
Die Theologin Birgit Dierks und der Theologe Valentin Dessoy
sehen den Kipppunkt beim Niedergang der Kirchen schon längst überschritten.
Mit der verbliebenen Kraft müsse Kirche jetzt den Anschluss
an die nächste Generation schaffen.
Hallo Frau Dierks und Herr Dessoy,
welche Probleme sehen Sie, wenn Sie sich den Zustand der Kirche anschauen?
Valentin Dessoy: Größtes Problem ist der Rückgang der Mitglieder. Die Kirche verliert die Menschen, die Lust haben, sich einzubringen. Dieser Verlust ist so massiv, dass die Kirche bis 2030 ausgeblutet ist. Wir gehören zu einer Generation, die mit Kirche aufgewachsen ist. Die das sehr positiv erlebt hat. Kirche ist aktuell zu 98 Prozent für diese Generation da. Aber die stirbt langsam aus.
Birgit Dierks: Man könnte es als Muskelschwund bezeichnen. Die Muskeln der Kirche sind die Menschen, die etwas bewirken. Die sind aber inzwischen oft ausgepowert, weil immer größere Kirchenbezirke entstehen. Ein bisschen Burnout schwingt also auch mit.
Dessoy: Kritisch sehe ich den dauerhaften Invest in ein Geschäftsmodell, das keine Zukunft hat. Kirche verändert sich viel, viel schneller, als dass die Bereitschaft wächst, in neue Formen zu investieren.
Welche Reaktionen auf diesen Niedergang nehmen Sie in den Kirchen wahr?
Dessoy: 60 Prozent der Führungskräfte sagen anonym: „Die aktuelle Form von Kirche hat keine Zukunft.“ Sobald sie auf der Bühne stehen, heißt es: „Bitte macht die nächsten fünf, zehn Jahre noch so weiter. Solange es geht.“ Eindeutige Schizophrenie.
Dierks: Auf dem Kongress [Dierks und Dessoy sind Mitorganisatoren des Strategiekongresses „Auflösung – Kirche reformieren, unterbrechen, aufhören?“; Anm. d. Red.] spüren wir existenzielle Angst und Kummer, dass das, was man aufgebaut hat, das Lebenswerk, jetzt bedroht ist.
Dessoy: Wir beschäftigen uns auch mit dem Loslassen. Da gibt es Gegenreaktionen, das wollen manche nicht. Da kommt dann die Frage: „Was ist denn jetzt die Strategie?“ Es gibt keine mehr. Ich muss loslassen und schauen, was Neues entsteht. Es geht nicht mehr, das Neue aus dem Alten herzuleiten. Es ist nicht mehr steuerbar. Das löst Irritationen aus.
Dierks: Wir hatten auf dem Kongress einen Abschnitt zum Thema Gotteserfahrungen. Das wurde einigen zu persönlich. Da gibt es Widerstände, die professionelle und die persönliche Ebene zusammenzubringen.
Ist das ein Ziel des Kongresses?
Dessoy: Wir sind davon überzeugt, dass die Glaubenserfahrung das Entscheidende im System Kirche ist. Keine Privatangelegenheit. Für viele ist das ausgegliedert. Für uns stellt es den eigentlichen Kern dar. Nur wenn wir den haben, gelingt es, den Rest, die alten Formen von Kirche loszulassen.
Titel des Kongresses ist „Auflösung“. Was hat es damit auf sich?
Dessoy: In der katholischen Kirche und in großen Teilen der evangelischen Kirche wird seit Jahren gesagt: „Die Volkskirche löst sich auf.“ Wir rufen den Führungskräften zu: „Nehmt doch mal ernst, was ihr die ganze Zeit sagt!“ Wenn wir das nämlich ernst nehmen, dann stellt sich die Frage: Können wir das System überhaupt noch reformieren oder müssen wir jetzt systematisch unterbrechen oder können wir es ganz sein lassen?
Dierks: In den letzten zweieinhalb Jahren haben wir erlebt, was Unterbrechung bedeuten und auslösen kann. Wegen der Corona-Pandemie gab es zum Beispiel keine Ostergottesdienste. Was da an Innovationen, aber auch an depressiven Reaktionen kam, war interessant.
Unsere These ist es, dass sich nur durch Unterbrechen etwas ändern kann. Schleichendes Reformieren machen wir seit 40 Jahren in den Kirchen. Es hat sich bisschen was im System geändert, aber nicht am System.
Dessoy: Kleines Beispiel. Wegen Corona hatten große katholische Frauenorden keine Eucharistiefeiern mit Priester mehr. Die sagen jetzt offiziell: „Ist doch ohne viel schöner. Wir brauchen das nicht mehr.“ Da wird es für die katholische Kirche richtig schwierig.
Halten Sie das System Kirche für reformierbar oder braucht es etwas radikal Neues?
Dessoy: Für mich ist das klar. Ich gebe der katholischen Kirche in ihrer jetzigen Form noch fünf Jahre. Die Austrittszahlen liegen für dieses Jahr aktuell bei einer Million. Die sind in den letzten Jahren massiv angestiegen. Pro Jahr fällt eine Diözese von der Größe Limburgs weg. Noch fünf, maximal zehn Jahre, dann kollabiert dieses System. Das sagen auch Führungskräfte. Wir müssen jetzt mit den Ressourcen, die noch da sind, den Anschluss an die nächste Generation schaffen.
Dierks: Wir haben den Kipppunkt überschritten. Ich gehöre zur Generation der Baby-Boomer. In fünf, sechs Jahren gehe ich in Ruhestand. Ich bin Teil eines Berges, der dann einfach wegfällt und die Kirche trotzdem noch finanziell belastet. Deswegen gehe ich davon aus, dass spätestens dann das System zusammenbricht. Selbst wenn noch Geld da ist, wird es keine Menschen geben, die die freien Stellen ausfüllen können. Das heißt, wir müssen uns massiv mit allgemeinem Priestertum und Umformung beschäftigen.
Man kann bei einem Flughafen die Landebahn ziemlich lange kürzen, wenn man keine Gelder mehr hat, um sie zu asphaltieren. Aber irgendwann kann man keine Flugzeuge mehr einsetzen, weil die Landebahn zu kurz ist. Dann ist es ein Hubschrauber-Landeplatz und ich muss schauen, dass ich Hubschrauber entwickle. Das ist für mich der Knackpunkt bei der Reform der Kirche. Es geht nicht darum, die Flugzeuge besser zu machen, sondern neue Formen des Fliegens zu entwickeln.
Sie haben einen Kipppunkt erwähnt. Wann war der überschritten?
Dessoy: Der Kipppunkt ist ein Punkt, ab dem ein Prozess nicht mehr umkehrbar ist. Das ist schon längst gelaufen. Dieser Punkt wurde überschritten, als klar war, dass die klassische Sozialisation nicht mehr zur Reproduktion führt, sondern im Gegenteil zu immer stärkerer Distanzierung und Indifferenz. Das steigt dynamisch an. Siehe Kirchenaustritte. Irgendwann wird es so krass, dass das System erkennbar zusammenbricht. Noch kann man sich was in die Tasche lügen.
Was passiert, wenn das System Kirche komplett zusammenbricht?
Welche Szenarien gibt es da?
Dierks: Wir haben festgestellt, dass es noch viele Ressourcen gibt. Eine Hülle wird also vielleicht noch bestehen bleiben. Ich glaube, dass viele kleine Gemeinschaften außerhalb von Kirche entstehen werden. Es wird wesentlich dezentraler werden. Da werden viele kleine Pilze aus dem Boden schießen.
Das passiert schon längst. Auch jenseits von den Innovationen, die wir steuern. Leute, die sowas auf dem Herzen haben, machen das einfach. Die finanzieren sich dann selbst und suchen sich ihre Formen jenseits von Kirche.
Dessoy: Mein Sohn hat in Frankfurt an der Oder studiert. Dort gibt es eine große kulturwissenschaftliche Fakultät. Die machen das, was wir damals in der Theologie gemacht haben. Sie beschäftigen sich mit Spiritualität, philosophischen und theologischen Texten, Ethik – aber alles nicht unter dem Label Kirche.
Die katholische Kirche wird zerfallen wie eine Windschutzscheibe. 1.000 Scherben. Jeder macht seins. Der eine klebt noch das Label Kirche darauf, die andere nicht. Das ist relativ sicher. Das sieht man jetzt schon. Zum Beispiel Maria 2.0 [eine Reformbewegung innerhalb der katholischen Kirche, die für Frauenordination eintritt; Anm. d. Red.].
Ihr Wunsch wäre es jetzt, diese neuen Formen unter dem Label Kirche zu vereinen?
Oder wie kann ich mir die nächste, die neue Kirche vorstellen?
Dessoy: Die Gesellschaft verändert sich stark, ähnlich wie im Mittelalter. Wir sind mittendrin im Umbruch. Die Gesellschaft, wie wir sie kennen, ist 300 Jahre alt. Die sozialen Medien verändern sie extrem. Dadurch passen unsere Prozesse, Reaktionen und Kontrollmechanismen irgendwann nicht mehr. Die nächste Kirche muss das Neue integrieren. Das geht nur, wenn sie netzwerkartig, sehr dezentral ist. Fokussiert wirklich auf den Kern dessen, was Erfahrung ist. Keine Wissenstransportation mehr. Keine Moralinstanz.
Dierks: Keine Wahrheiten. Postmoderne.
Dessoy: Raum für Erfahrung und Sinnstiftung. Um das für die katholische Kirche noch mal deutlich zu machen: Der Synodale Weg wird aktuell sehr gehypt. Da geht es um die Themen Frauen, Gleichberechtigung, Sexualität und Klerikalismus [Machtverteilung zwischen Geistlichen und Laien; Anm. d. Red.].
Aus einer Marketing-Perspektive wären das die Basismerkmale. Wenn Sie in ein Hotel gehen und es gibt kein Bett, dann gehen Sie da nie wieder hin. Was passiert, wenn Sie in ein Hotelzimmer kommen, und da steht ein Bett? Da sind sie nicht begeistert. Sie bemerken das gar nicht, weil es selbstverständlich ist.
Die katholische Kirche arbeitet noch an diesen Basismerkmalen. Wenn ich das meinem Sohn erzähle, schüttelt der nur den Kopf. Wir haben aber als Kirche noch so viel Energie, dass wir diesen Auflösungsprozess des klassischen Kirchensystems nicht nur erleiden, sondern forcieren könnten.
Dierks: Und wie können wir das forcieren? Es braucht Räume für Menschen, die eine Transformation leben wollen. Lassen Sie mich das am Beispiel der Entwicklung von einer Raupe zum Schmetterling erläutern.
In einer Raupe bilden sich dabei zuerst vereinzelte Zellen, die vom System bekämpft werden. Später verklumpen die sich und dadurch entsteht dieser Transformationsprozess zum Schmetterling. Es braucht also einen Rahmen, wo sich Menschen, die Transformation schon in sich spüren, verbinden können.
Vielen Dank für das Gespräch!
Die Fragen stellte Pascal Alius.
Die Theologin Birgit Dierks arbeitet als Referentin für missionale Gemeindeentwicklung bei der Evangelischen Arbeitsstelle für missionarische Kirchenentwicklung und diakonische Profilbildung (midi).Valentin Dessoy ist Psychologe, Theologe, Kirchenentwickler, Autor und Geschäftsführer von kairos. Coaching, Consulting, Training.
Beide haben den Strategiekongress „Auflösung – Kirche reformieren, unterbrechen, aufhören?“ mitorganisiert. Die Kongressreihe „Strategie und Entwicklung in Kirche und Gesellschaft“ existiert seit 2008. Träger des Strategiekongresses ist der Verein futur2 e.V., der die gleichnamige Online-Zeitschrift herausgibt.
Veranstalter des Kongresses sind kairos – Coaching, Consulting, Training Mainz, der Strategiebereich 1, Ziele und Entwicklung im Bischöflichen Generalvikariat Trier, die Thomas-Morus-Akademie Bensberg und die Evangelische Arbeitsstelle für missionarische Kirchenentwicklung und diakonische Profilbildung (midi) und die XIQIT GmbH. Der 7. Strategiekongress wird unterstützt von der zap:stiftung Bochum.
Quelle:
https://www.jesus.de/glauben-leben/theologe-noch-fuenf-jahre-dann-kollabiert-das-system-kirche/
30.7.2024
Valentin Dessoy
Auf dem Weg zur nächsten Kirche
Wenn sich komplexe, dynamische Systeme verändern
Komplexe dynamische Systeme verändern sich sprunghaft. Das Neue kann nicht linear vom Bestehenden abgeleitet oder daraus entwickelt werden. Es entsteht in einem emergenten Prozess, wenn die Rahmenbedingungen gegeben sind. Solche Prozesse haben stets etwas Disruptives oder Chaotisches. Sie können allerdings gestaltet werden in dem Sinne, dass man ihnen einen Ort und einen Rahmen gibt, um die Grundlagen des Systems, den kommunikativen Bezug der Akteure i.S. Luhmanns, zu erhalten und dem Tradierten durch disruptive Innovation eine neue, kontextualisierte Gestalt zu geben. Die Tiefe und Dimension des notwendigen Gestaltwandels (und damit den Grad der erforderlichen Disruption) auszublenden kann leicht dazu führen, dass ein Kipppunkt erreicht wird, an dem das System in einen Zustand irreversibler Auflösung gerät, wie es die Kirche am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit in Form der Kirchenspaltung erlebt hat.
Wir stehen an der Schwelle zur “nächsten Kirche”.1 Tiefgreifende Umwälzungen deuten sich an. Was lässt sich aus systemischer Perspektive über den Prozess sagen und wie lässt sich das theologisch übersetzen?
Wovon wir ausgehen können
Unsere Gesellschaft befindet sich in einem epochalen Umbruch und mit ihr die Kirchen. Wenn sie als Ordnungsfigur überleben wollen, müssen sie in der „nächsten Gesellschaft“ (Dirk Baecker) anschlussfähig sein und hierfür ihre internen und externen Prozesse neu formatieren. Die Herausforderung ist gewaltig, zumal Religion seit Jahrzehnten unter einem grassierenden Relevanzverlust leidet, der auf einer veränderten „Nachfragestruktur“ (Detlev Pollack; KMU 5) beruht. Das Bedürfnis nach Religion ist abhandengekommen. Man braucht die Kirchen nicht mehr, weil sämtliche Funktionen der Daseinsbewältigung, -vorsorge und -absicherung anderweitig und besser realisiert werden. Heilung und Befreiung finden andernorts statt, so dass der Kern der christlicher Botschaft, das Heilsversprechen in Jesus Christus, in unserer modernen Gesellschaft kaum noch damit verknüpft werden kann.
Für die katholische Kirche kommt hinzu, dass sie Entwicklungen nachholen muss, gegen die sie sich seit der Aufklärung mit aller Macht gewehrt hat: Gewaltenteilung, Gleichberechtigung, differenzierter Umgang mit Sexualität etc. Ein Blick aus der Zufriedenheitsforschung zeigt, wie bedeutsam gerade diese Aspekte sind. Man würde sie dort als sog. Basismerkmal bezeichnen. Solche Merkmale sind in einer aufgeklärten Gesellschaft Selbstverständlichkeiten, die – ähnlich der Sauberkeit im Hotel – bei Nicht-Vorliegen zu starker Unzufriedenheit führt, bei Vorliegen jedoch keinerlei positiven Effekt auf die Zufriedenheit haben. Beim Synodale Weg gibt es zumindest in Teilen die Intention, hier aus der Defensive zu kommen. Aber selbst wenn es gelänge, würde die Kirche dadurch noch lange nicht attraktiv – eben nur weniger schlimm.
Es geht – ähnlich wie am Übergang zur Neuzeit – um eine systemische Transformation, die bis in die DNA der Institution hinein reicht und deren Ergebnis ungewiss ist.
Das Menetekel der Kirchenspaltung, das den Synodalen Weg begleitet, knüpft an die Erfahrung des letzten großen gesellschaftlichen Umbruchs an, den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Damals entstand über einen längeren Zeitraum hinweg unsere modere Gesellschaft. Im Zuge der damit einhergehenden gesellschaftlichen Verwerfungen zerbrach die Einheit der Kirche. In der Folge wurde allerdings ihr institutioneller Charakter in Abgrenzung zu den anderen gesellschaftlichen Funktionssystemen immer weiter gestärkt. Die Kirchen sind seit dieser Zeit – ungeachtet zahlreicher operativer Anpassungsprozesse – als Institutionen in ihrem Kern auf möglichst hohe Stabilität und Funktionalität programmiert.
Reformen bleiben bis heute in der bestehenden Organisationslogik verhaftet, die ihr in den letzten 250 Jahren das Überleben gesichert hat (Kybernetik 1. Ordnung). Der fortschreitende gesellschaftliche Wandel stellt die Kirchen vor die Herausforderung, in kürzester Zeit zu lernen, sich dauerhaft in dynamischen und volatilen Kontexten zu bewegen. Es geht – ähnlich wie am Übergang zur Neuzeit – um eine systemische Transformation, die bis in die DNA der Institution hinein reicht und deren Ergebnis ungewiss ist (Kybernetik 2. Ordnung).
Reformen bleiben bis heute in der bestehenden Organisationslogik verhaftet, die ihr in den letzten 250 Jahren das Überleben gesichert hat (Kybernetik 1. Ordnung).
Das Szenario einer Spaltung liegt da auf der Hand. Allerdings ist es diesmal mit einer „einfachen“ Spaltung sicher nicht getan. Sie wird heute absehbar die Form einer Zersplitterung haben, vergleichbar einer berstenden Windschutzscheibe. Daher sind die Befürchtungen im Zusammenhang mit dem Synodalen Weg durchaus berechtigt. Man könnte auch sagen, das ist ein mögliches Szenario in diesem Prozess, womöglich sogar das Trendszenario. Aber ist dieser Prozess unausweichlich? Was kann Kirche von den Sozialwissenschaften lernen?
Wie Systeme lernen
Wir kennen es aus der Psychologie: Es gibt unterschiedliche Formen des Lernens und der Weiterentwicklung. Beim Lernen einfacher Dinge (z.B. Vokabeln) zählt allein die Häufigkeit, mit der man etwas wiederholt und sich einprägt: Je mehr, desto besser. Bei komplexeren Vorgängen, z.B. beim Gehen- oder Sprechen-Lernen, sieht das anders aus: Lernen geschieht am Modell, experimentell und sprunghaft. Lange bleibt es beim Versuch und plötzlich, mit einem Schlag, ist das Gelernte da, ein qualitativer Sprung.
Der Psychologe Jean Piaget nennt die beiden Lern- bzw. Entwicklungsparadigmen Assimilation bzw. Akkomodation. Bei der Assimilation werden neue Erfahrungen in bestehende kognitive Schemata integriert. Gelingt dies aufgrund von Fremdheit nicht (mehr), sind also stärker abweichende oder inkompatible Erfahrungen zu verarbeiten, muss das Schema verändert, die „kognitiv-emotionale Struktur“ (Luc Ciompi) neu konfiguriert werden.
Organisationen haben in besonderer Weise die Tendenz, Muster, Routinen und Strukturen auszubilden, die sie von Personen lösen und auf Dauer stellen, d.h. vor allem Stabilität und Funktionalität gewährleisten.
Die beschriebenen Phänomene lassen sich auch in sozialen Systemen beobachten, gerade auch in Organisationen. Sie haben in besonderer Weise die Tendenz, Muster, Routinen und Strukturen auszubilden, die sie von Personen lösen und auf Dauer stellen, d.h. vor allem Stabilität und Funktionalität gewährleisten. Solche Muster sind hochgradig sinnvoll: Das System „funktioniert“ und muss sich nicht ständig neu erfinden. Allerdings ändern sich laufend die Umweltanforderungen. Systeme versuchen dann zunächst und oftmals über eine lange Strecke, im Rahmen ihrer bisherigen Logik zu bleiben. Mehr desselben und erhöhte Anstrengungen innerhalb der bestehenden Muster und Routinen sind die Folge. Kommt Ressourcenmangel hinzu, führt dies i.S. der Kybernetik 1. Ordnung zu fortschreitender Konzentration, Verdichtung und Zentralisierung. Gelingt die Anpassung an die Umweltanforderungen auf diese Weise nicht mehr, ist das „Betriebssystem“ bzw. „Geschäftsmodell“ betroffen. Das schließt die Basisprämissen der Organisation, ihre innere Logik, ihre DNA mit ein.
Die Entwicklung von Kultur und Gesellschaft verläuft ähnlich, nur in ganz anderen zeitlichen Dimensionen. So beschreibt Peter F. Drucker der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit als Übergang in eine neue „Medienepoche“, die das Zusammenspiel gesellschaftlicher Kräfte grundsätzlich veränderte: Aus der Ständegesellschaft wurde die moderne funktionale Gesellschaft, wie wir sie kennen. Entscheidend für diese Entwicklung war nach Drucker die revolutionären Erfindung des Buchdrucks, die sämtliche Steuerungs- und Kontrollsysteme des Mittelalters zu Fall brachte. Heute stehen wir aufgrund der revolutionären Entwicklung der Informationstechnologie in einem ähnlich tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbruch, der in keinem kirchlichen Reformprozess bislang eingepreist ist.
Wenn es chaotisch wird
Was passiert genau, wenn lineare Anpassungsprozesse nicht zum Erfolg führen, wenn der Austausch einzelner Komponenten nicht mehr hilft, sondern das Betriebssystem erneuert werden muss? Diese Frage reflektiert die Chaostheorie. Forschungsergebnisse zeigen, dass Übergänge dieser Art zunächst scheinbar chaotisch verlaufen. Die bestehende Ordnung zerfällt, Altes funktioniert nicht mehr und neue Routinen stehen noch nicht zur Verfügung. Das Ergebnis ist weder deduktiv ableitbar noch vorhersagbar. Es gibt keine Kontrolle. Weiter geht es allenfalls experimentell, ohne Garantie auf Erfolg.
Im kirchlichen Kontext nehmen diese im Vorfeld chaotischer Veränderungen typischen Erlebens- und Verhaltensweisen seit einiger Zeit auf dramatische Weise zu.
Die Ergebnisse der Chaosforschung (Henri Poincaré, Benoît Mandelbrot, Mitchell Feigenbaum u.a.) zeigen zudem einen engen Zusammenhang zwischen der Komplexität der geforderten Anpassung und der Art des zugehörigen Lernprozesses. Innerhalb gewisser Toleranzgrenzen lernen Systeme stetig. Die innere Organisation bleibt erhalten (Clayton Christensen nennt das auch „inkrementelle Innovation“). Wenn allerdings die Umweltanforderungen stärker abweichen, muss es zu einer Anpassung der inneren Organisation kommen ( „disruptive Innovation“ nach Christensen).
Solche Übergänge sind „emergent“, sie sind nicht machbar, sondern ereignen sich. Für Beobachtende verlaufen sie zumeist sprunghaft. Zunächst wird das System instabil, womöglich über eine längere Zeit. Der damit einhergehende Kontrollverlust erzeugt Stress im System. Er löst bei allen Beteiligten Irritation und vielfach ambivalente Gefühle wie Ohnmacht, Wut oder Trauer aus. Im Verhalten kann die Verunsicherung Unterschiedliches bewirken. Typische Stressreaktionen sind: Man schaut weg, man verleugnet oder bagatellisiert, man verstärkt seine Anstrengungen, verteidigt seine Claims, polarisiert und geht in den Angriffsmodus über oder verlässt das Feld und geht einfach. Diese Phänomene sind umso intensiver und dauern umso länger, je mehr gelernt werden muss, d.h. je umfassender und tiefgreifender die notwendige Dekonstruktion ist.
Im kirchlichen Kontext nehmen diese im Vorfeld chaotischer Veränderungen typischen Erlebens- und Verhaltensweisen seit einiger Zeit auf dramatische Weise zu.
Je tiefgreifender und damit auch chaotischer ein Übergangsprozess verlaufen kann, desto wichtiger ist es, einen Rahmen zu setzen, der das, was dann passiert, halten kann und ihm Sinn gibt
Am Kipppunkt
Der Einschätzung, dass die jetzige Form von Kirche – in welcher konfessionellen Prägung auch immer – unwiderruflich zu Ende geht, wird heute selbst in Kirchenkreisen kaum jemand ernsthaft widersprechen. Die „nächste Kirche“ (die Kirche in der nächsten Gesellschaft) wird anders sein und es ist zu vermuten, dass die Veränderung sprunghaft verläuft. Solche Veränderungen lassen sich nicht steuern und sind grundsätzlich ergebnisoffen. Für viele scheint dieses Szenario zu schmerzhaft, um es an sich heranzulassen. Andere überhöhen sie spirituell. Wieder andere sehen darin die Erlaubnis, einfach das zu tun, was man halt für richtig hält oder gerne tut. Sie verbindet, dass man darauf verzichtet, den Transformationsprozess systematisch anzugehen und gemeinsam darum zu ringen. Hier zeigen sich schon Ansätze zur Zersplitterung.
Der Rahmen chaotischer Übergangsprozesse lässt sich bewusst gestalten (etwa die inneren Frames, mit denen die Beteiligten auf den Prozess schauen). Der gewählte Rahmen hat deutliche Effekte auf den Verlauf und u.U. auch das Ergebnis (selbst, wenn es nicht vorhersagbar ist). Aus therapeutischen Prozessen, z.B. in einer Familientherapie, wissen wir: Je tiefgreifender und damit auch chaotischer ein Übergangsprozess verlaufen kann, desto wichtiger ist es, einen Rahmen zu setzen, der das, was dann passiert, halten kann und ihm Sinn gibt. Ein solcher Rahmen ist im Kern das Commitment, im Vertrauen (aufeinander, auf Gott) den Weg des Loslassens auf diese offene Weise in gemeinsamer Verantwortung füreinander und miteinander zu gehen.
Vieles deutet darauf hin, dass dieser Kipppunkt zumindest für die katholische Kirche in Deutschland näher rückt, vielleicht auch schon überschritten ist.
Aufgrund der nicht-linearen Eigendynamik von Systemen gibt es für die Möglichkeit der Gestaltung solcher Prozesse allerdings nur ein begrenztes Zeitfenster. Auf dem Weg zu Veränderungen, die in die Tiefenstruktur des Systems reichen und daher absehbar disruptiv verlaufen, gibt es einen Kipppunkt, an bzw. nach dem es keine oder nur noch sehr begrenzte Möglichkeiten gibt, sich zu vereinbaren, um den Rahmen für den Übergang zu gestalten. Die Gefahr ist groß, dass sich dann nicht nur die Gestalt (hier die konkrete Kirchengestalt), sondern darüber hinaus der kommunikative Bezug aufeinander und damit das System in seiner Substanz (Kirche als systemische Wirklichkeit jenseits organisatorischer Ausprägungen) Schaden nimmt oder sich sogar auflöst. Aus einem „kontrollierten“ wird ein „unkontrolliertes“ Chaos mit einem hohen destruktiven Potenzial. Deutlich beschleunigte Trends, verschärfte Diskussionen über den „richtigen“ Weg in die Zukunft, das wechselseitige Absprechen von Kirchlichkeit, Drohungen und Schuldzuweisungen, die Frequenz kritischer Ereignisse, die größer werdende Zahl derer, die aufgeben etc. deuten darauf hin, dass dieser Kipppunkt zumindest für die katholische Kirche in Deutschland näher rückt, vielleicht auch schon überschritten ist.
Unterschiedliches Handling in den Kirchen
Die Kirchen unterscheiden sich im Umgang mit dieser Situation erheblich.2 In der katholischen Kirche ist die Kirchenbindung traditionell stärker ausgeprägt, als in den evangelischen Kirchen. Dennoch erreicht hier die Absetzbewegung inzwischen den Kern treuer und aktiver Katholiken in den Gemeinden. Die Austrittswelle nimmt Fahrt auf und ist inzwischen stärker als in der evangelischen Kirche. 60% der Verantwortungsträger in der katholischen Kirche halten die bisherige Gestalt von Kirche tendenziell für nicht zukunftsfähig, deutlich mehr als dies bei Verantwortungsträger:innen in den evangelischen Kirchen der Fall ist.3 Für sie scheint die Situation noch eher gestaltbar. Zudem sind in der katholischen Kirche Trennung und Kirchengründung keine Optionen, im Notfall bestehende Spannungen zu lösen. Man kann also dort das Feld nicht so einfach verlassen bzw. wechseln. In der Folge sind in der katholischen Kirche aktuell Polarisierungstendenzen deutlich virulenter. Das führt vielfach zu Lähmungserscheinungen, zu Aktionismus und zu weiterem Vertrauensverlust.
In der katholischen Kirche ist die Kirchenbindung traditionell stärker ausgeprägt, als in den evangelischen Kirchen.
Die Idee, dass Kirche über eine längere Zeit mit zwei (oder mehr) Betriebssystemen unterwegs sein könnte ist in den Evangelischen Kirchen zumindest im Fachdiskurs angekommen (Philipp Elhaus spricht von „Ambidextrie“).4 Die breite Aufstellung von „Erprobungsräumen“ 5 ist – losgelöst von der Frage, was dort faktisch passiert – ein erster Versuch, dies systemisch zu verankern. Davon ist die katholische Kirche noch entfernt. Dort laufen Ansätze, vom Pfad abzuweichen und zu experimentieren, eher im Windschatten oder so planvoll und risikoavers, dass systemrelevante Änderungsimpulse kaum zu erwarten sind und letztlich nicht gewollt werden, sofern sie denn systemrelevante Erschütterungen auslösen könnten, um die es ja im Kern dabei geht.
Mit einem Kipppunkt in näherer Zukunft scheint kaum jemand zu rechnen. Weder Entwicklungsprozesse noch Risikomanagement der Diözesen und Landeskirchen sind darauf ausgerichtet. Man geht in der Praxis trotz vielfältiger Hinweise und Signale zumeist von nahezu linearen Prozessen und einer langfristig gesicherten Handlungsfähigkeit aus. Man glaubt oder suggeriert, die Prozesse kontrollieren zu können.
Mit einem Kipppunkt in näherer Zukunft scheint kaum jemand zu rechnen. Weder Entwicklungsprozesse noch Risikomanagement der Diözesen und Landeskirchen sind darauf ausgerichtet.
In den evangelischen Kirchen ist das Wissen um die grundlegende Andersartigkeit der „nächsten Kirche“ durchaus vorhanden. Nur stellt sich angesichts des verbreiteten Pragmatismus und der dominanten Kultur der Machbarkeit die Frage, ob faktisch das Tempo und die Tiefe der Reformen reichen, um den unkontrollierten Zusammenbruch zu verhindern und den qualitativen Sprung in die nächste Kirche zu schaffen. In der Katholischen Kirche ist es angesichts der in den letzten 200 Jahren vollzogenen Zentralisierung von Macht und deren pyramidaler Zuspitzung und Immunisierung in der Hand des Papstes und der römischen Kurie mehr als fraglich, ob es bei den Verantwortungsträgern überhaupt die Bereitschaft gibt, lokal unterschiedliche Betriebssysteme geschweige denn eine Vielfalt unterschiedlicher Kirchenkulturen zuzulassen.
Sterben und Auferstehen – die DNA von Kirche
Wenn von Kirche gesprochen wird, ist der damit bezeichnete Sachverhalt mehrdeutig, weil der Begriff in unterschiedlichen Kontexten bzw. Sprachspielen gebraucht wird. Abgesehen davon, dass es in einem engen katholischen Verständnis überhaupt keine evangelischen Kirchen geben kann, bedeutet Kirche Unterschiedliches, je nachdem ob man mit einer kirchenrechtlichen, theologisch-dogmatischen, praktisch-theologisches, organisatorischen, betriebswirtschaftlichen, soziologischen … Brille auf die (gleiche) Wirklichkeit schaut.
Problematisch wird es, wenn systematisch logische Kategorienfehler gemacht und normativ gesetzt werden.
Dies ist zunächst unproblematisch, sofern man den Interpretationskontext jeweils mitliefert bzw. markiert. Geschieht dies nicht, entsteht Verwirrung, die man zumeist – bei gutem Willen – kommunikativ aufklären kann. Problematisch wird es, wenn systematisch logische Kategorienfehler gemacht und normativ gesetzt werden. Dies ist dann der Fall, wenn eine bestimmte Organisationsform, die in einem bestimmten historischen Kontext entstanden ist, mit der dahinterliegenden systemischen (Erfahrungs-)Wirklichkeit (die sich organisatorisch in unterschiedlichen Kontexten unterschiedlich konkretisiert hat) oder gar einer noch dahinterliegenden geistlichen Wirklichkeit gleich und absolut gesetzt wird. Dieses Manöver ist leicht durchschaubar: Es geht darum, bestehende Machtverhältnisse (die jede Organisation in der einen oder anderen Form mit sich bringt) zu immunisieren. Christian Hennecke zeigt in seinem Beitrag “Warum es so sein muss” in dieser Ausgabe, dass diese Position auch theologisch nicht haltbar ist.6
Differenziert man allerdings zwischen der Institution bzw. Organisation Kirche, also der Kirche in ihrer aktuellen rechtlichen und organisatorischen Verfasstheit, und der dahinterliegenden und umfassenderen, 2000 Jahre währenden Kommunikations- und Erfahrungswirklichkeit Kirche, i.S. Luhmanns der systemischen Wirklichkeit Kirche, eröffnen sich ganz neue Entwicklungsperspektiven.
Ganz offensichtlich geht die aktuelle Gestalt von Kirche in Deutschland als Institution und Organisation ihrem Ende entgegen.
Ganz offensichtlich geht die aktuelle Gestalt von Kirche in Deutschland als Institution und Organisation ihrem Ende entgegen. Die anstehende Kulturveränderung ist organisatorisch so fundamental, dass deren DNA (ihre innere Logik, die Grundprinzipien ihrer Reproduktion als Organisation) betroffen sind. Das sorgt natürlich für Unruhe, v.a. bei denen, die Macht haben und Verantwortung tragen.
Damit geht jedoch die systemische Wirklichkeit hinter allen historisch bedingten organisatorischen Erscheinungsformen von Kirche nicht unter, im Gegenteil, sie zeigt, dass sie lebt. Die Wirklichkeit, der Kommunikations- und Erfahrungszusammenhang derer, die mit der Botschaft in Berührung gekommen sind und sich als Glaubensgemeinschaft verstehen, theologisch das Volk Gottes, beruht auf der Begegnung mit der unbedingten Liebe Gottes in Jesus Christus. Das ist der Kern christlicher Hoffnung: die Heilszusage Gottes, die in Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi erfahren wurde. Sterben und Auferstehen sind Kern der DNA von Kirche als System und Bewegung. Genau hier liegt der Masterplan ihrer über 2000-jährigen Geschichte. Sie verfügt über das Know-how, ihre konkrete Gestalt immer wieder grundlegend, bis in deren DNA hinein, zu verändern. Und genau das ist ihr Kernauftrag: Die Heilserfahrung und -zusage in jeder Zeit jeweils neu zu formulieren und zu formatieren.
Sterben und Auferstehen sind Kern der DNA von Kirche als System und Bewegung
Christian Hennecke schreibt: „Zweifellos aber ist diese Logik des Werdens auch immer eine Logik des Sterbens. Es ist geradezu die unverwechselbare Identität des christlichen Glaubens, der sich in die Geschichte einschreibt, dass er die österliche Perspektive mitbringt: Tod und Auferstehung Christi geben auch den Rhythmus seiner Kirche vor – und das ist ja die eigentliche frohe Botschaft: jeder Tod spricht vom Leben, das neu wird und kommen wird, weil das wirkliche Leben, das Leben in Fülle, wächst aus dem Geheimnis des Sterbens. Was ein für alle Mal in Kreuz und Auferstehung geschehen ist, wird zum Lebensrhythmus des Christseins, wird zu Logik kirchlicher Existenz.“7
Relevant vom Ursprung her
Am Anfang der christlichen Bewegung stand also eine Erfahrung und deren Deutung, die in ihrer Verbindung für die Menschen damals, Juden und Nicht-Juden, offensichtlich sehr überzeugend war, unabhängig davon, in welchem kulturellen Kontext sie sich bewegten. Die Evangelien beschreiben die Person Jesu und ihren Umgang mit den Menschen, in einer Vielzahl von Bildern und Geschichten. Stets ging von ihm eine Wirkung von Heilung und Befreiung aus. Jesus begründete sein Handeln mit einer besonderen Beziehung zu Gott. Seine Jünger verstanden Handeln Jesu als Hinweis auf etwas Größeres, auf Heil und Erlösung. Sie verknüpften sein Auftreten mit dem Anbrechen des endzeitlichen Reiches Gottes (hebräisch מלכות malchut, griechisch Βασιλεία τοῦ Θεοῦ). In ihm sahen sie den Gesandten Gottes und drückten das Besondere an ihm – abhängig von der jeweiligen Kultur – in unterschiedlichen Bildern und Begriffen aus.
Umkehr, Sinnesänderung (griech. μετάνοια metánoia) steht am Anfang des Evangeliums und ist ein Kernbegriff im Neuen Testament (Mk 1,9-15). Es geht um nachhaltige Veränderung: Durch das Wirken Jesu entstand (in der Wahrnehmung der Zeugen) ein Raum, der neue Erfahrungen ermöglichte, die einen tiefgründigen Unterschied machten, die den kognitive Bezugsrahmen grundlegend veränderten und in diesem Sinne Umkehr, Wandlung und Entwicklung auf eine verheißene gute Zukunft hin in Gang setzten (vgl. Lk 24,13-35).
Die Christen sind Spezialisten für Wandlung und Entwicklung. Sie machen durch die Art ihres Beziehungsangebotes einen Unterschied. Sie sind ihrer Zeit voraus, sie verweisen auf eine Wirklichkeit, einen Fluchtpunkt in der Zukunft, nicht in der Vergangenheit.
Taufe und Mahlgemeinschaft sind rituelle Zeichen und Vergegenwärtigung dieser Erfahrungswirklichkeit. Sie war allem Augenschein nach so stark und fundamental, dass sie die Botschaft der frühen Christen auch über den Tod Jesu hinaus lebendig und wirksam halten konnte. Sie steht in direktem Zusammenhang mit dem Sendungsauftrag Jesu „Geht hinaus in die ganze Welt und verkündet das Evangelium der ganzen Schöpfung!“ (Mk 16,15). Das Ende (der Auftrag) ist nur vom Anfang (der Umkehrerfahrung) her zu verstehen.
Systemisch betrachtet, wird hier – ausgehend von Jesus selbst – für die Jünger und die frühen Christen eine Rolle skizziert, die Hinweise geben kann, wie Kirche für eine Gesellschaft, die sich im Umbruch befindet, relevant werden könnte. Die Christen sind Spezialisten für Wandlung und Entwicklung. Sie machen durch die Art ihres Beziehungsangebotes einen Unterschied. Sie sind ihrer Zeit voraus, sie verweisen auf eine Wirklichkeit, einen Fluchtpunkt in der Zukunft, nicht in der Vergangenheit. Eine Kirche, die dieser Logik folgt, übernimmt horizontale Führung in der Gesellschaft.
Voraussetzung hierfür ist, dass die Kirchen selbst den Erneuerungsprozess in seiner ganzen Breite und Tiefe annehmen und angehen.
Systemtherapie: Selbstreferenz und Umweltreferenz gewinnen
Systeme sind immer selbstreferenziell. Sie können nur das sein, was in ihrem Systemcode angelegt ist. Systeme sind lebendig, wenn sie Umweltreferenz herstellen, sich auf veränderte Umweltbedingungen immer wieder neu einstellen. Systeme werden dysfunktional, wenn der Zugang zu den eigenen Potenzialen oder die Kommunikation mit der Umwelt nicht (mehr) gelingt.
Aus systemtherapeutischer Perspektive ist bei den Kirchen (bei der katholischen Kirche stärker als bei den evangelischen Kirchen) sowohl die Fähigkeit, Umweltreferenz herzustellen, als auch die Fähigkeit, Selbstreferenz herzustellen, über weite Strecken blockiert oder gestört.
Wie kann ein gestalteter Weg aus dieser Engführung und Blockade aussehen?
Am Anfang jeden therapeutischen Heilungsprozesses steht die existentielle Erkenntnis und Vergewisserung der Beteiligten, dass die bisherigen Lösungsversuche gescheitert sind und man als System keine Zukunft hat, wenn man sein Agieren nicht unterbricht und vom bisherigen Pfad abweicht.
Diese Erkenntnis führt nicht automatisch zum Handeln. Sie kann zu schmerzhaft sein, dass die Beteiligten in alte Muster zurückfallen oder sich mit kleineren Reparaturen an der Fassade begnügen, um ein besseres Gefühl zu haben. Erst wenn die Motivation, den qualitativen Sprung zu machen groß genug ist, wenn Neugier und Lust auf das Neue groß genug sind, entsteht Bewegung. Hilfreich ist es dabei, Frames zur Verfügung zu stellen, die den Übergang und die damit verknüpften Emotionen verstehbar und handhabbar machen. Für die Bereitstellung einer solchen Rahmung ist der Bezug auf die biblische Botschaft von zentraler Bedeutung.
Am Anfang jeden therapeutischen Heilungsprozesses steht die existentielle Erkenntnis und Vergewisserung der Beteiligten, dass die bisherigen Lösungsversuche gescheitert sind und man als System keine Zukunft hat, wenn man sein Agieren nicht unterbricht und vom bisherigen Pfad abweicht.
Den Fokus vom Funktionieren (wollen) auf Lernen (wollen) zu legen und dafür Raum zu schaffen, sich zu unterbrechen und loszulassen, ohne zu wissen, was kommt, zu experimentieren und Fehler zu machen, ist unabdingbar für nachhaltige Veränderung. Wenn der Weg ins Ungewisse gelingen soll, braucht es einen verlässlichen Beziehungsrahmen, das Commitment, das Kommende mit all seinen Turbulenzen im Vertrauen aufeinander und auf die gemeinsame Erfahrung der Liebe Gottes, in Verantwortung füreinander gemeinsam zu gehen. Hier ist es sicher so, dass die sich zeigende Zersplitterung ein Commitment umso schwieriger (und unverbindlicher) macht, je größer das System ist.
Wenn es dann losgeht, die Ressourcen für den laufenden Betrieb des Bisherigen systematisch und substanziell zu reduzieren (das beginnt angesichts der verbleibenden Zeit bei 50%), vorhandene Muster und Routinen zu unterbrechen, Bestehendes loszulassen, um überhaupt Räume für Lernen und Entwicklung zu schaffen, gerät das System zwangsläufig in Stress (das Fehlen von Stress ist ein Indikator, dass man nur an der Oberfläche kratzt). Wenn nichts mehr so funktioniert, wie bisher, und das Neue noch längst nicht erkennbar ist, entsteht Ungewissheit und Leere. Die Akteure sind irritiert, Emotionen kommen hoch, Interessensunterschiede werden sichtbar, Konflikte entstehen. Das gilt es miteinander auszuhalten und auszutragen. Hier hat Führung eine wichtige Rolle: das System zusammen und auf dem Weg zu halten und den Beteiligten bei allen Verwerfungen, die auftreten können, die Sicherheit zu geben, dass es eine gute Zukunft gibt. Hier ist die größte Gefahr, in Aktionismus zu verfallen und damit letztlich in die alten Muster.
Den Fokus vom Funktionieren (wollen) auf Lernen (wollen) zu legen und dafür Raum zu schaffen, sich zu unterbrechen und loszulassen, ohne zu wissen, was kommt, zu experimentieren und Fehler zu machen, ist unabdingbar für nachhaltige Veränderung.
Theologisch gesprochen führt der Weg der Erneuerung über das Kreuz (Joh 12,24). Nur wenn die Leere und Verlassenheit des Kreuzes ausgehalten wird, ist man bereit und in der Lage, auf das zu hören und zu erkennen, was wichtig ist, was der Kern der Hoffnung ist, das „Why“ (Simon Sinek), das antreibt und begründet, die Identität, die alles, was an Neuem kommt, verknüpft und energetisiert. Gerhard Wegner nennt das den „nächsten Glauben“. Er schreibt: „Das Neue wächst aus den Erfahrungen der Teilhabe an der Kraft Gottes: aus der leibhaftigen Partizipation an Kraftfeldern des Geistes.“8 Das Risiko eines solchen Weges ist allerdings, zu merken, dass es dieses gemeinsame „Why“ gar nicht (mehr) gibt oder die Schnittmenge der individuellen „Whys“ nicht mehr ausreicht, um etwas Gemeinsames daraus zu machen. Dennoch: Wenn es so ist, wird die Auflösung so oder so kommen.
Wenn das Mindset stimmt und der Raum vorhanden ist, wird Energie freigesetzt, dass Neues aus sich heraus entstehen kann. Dennoch ist auch hier Führung gefordert. Was gebraucht wird, ist abhängig von der Situation und den Kontextbedingungen. Es geht dabei stets um eine gute Balance zwischen strategischer Orientierung, Förderung und Unterstützung von Innovation und geschickter, sukzessiver Transformation, bei der v.a. Entscheidungen im Vordergrund stehen.
Das Risiko eines solchen Weges ist allerdings, zu merken, dass es dieses gemeinsame „Why“ gar nicht (mehr) gibt oder die Schnittmenge der individuellen „Whys“ nicht mehr ausreicht, um etwas Gemeinsames daraus zu machen.
Der beschriebene Prozess wird sich emergent von unten ereignen, wenn die Akteure es einfach tun. Er kann von der Führung behindert oder aber i.S. horizontaler Führung unterstützt werden. Letzteres braucht viel Fingerspitzengefühl, um das rechte Maß an notwendiger Sicherheit und hinreichendem Tempo zu finden. Mehr Tempo scheint angesagt und mehr Mut, Bisheriges sein zu lassen.
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1. Dessoy, V., Zukunft der Kirche im Prozess des gesellschaftlichen Wandels, in: Drumm, J., Oeben, S. (Hrsg.) CSR und Kirche. Die unternehmerische Verantwortung der Kirchen für die sozial-ökologische Zukunftsgestaltung, Berlin 2022; Dessoy, V., Hahmann, U., Führen an der Schwelle zur nächsten Kirche, in: Dessoy, V., Klasvogt, P., Knop, J. (Hrsg.), Riskierte Berufung – ambitionierter Beruf, Priester sein in einer Kirche des Übergangs, Freiburg i.Br. 2022.
3. Vgl. Hahmann, U., Dessoy, V., Reintgen, F., Hat die aktuelle Sozialgestalt von Kirche eine Zukunft. Befragung kirchlicher Führungskräfte im Vorfeld des 7. Strategiekongresses, in: futur 2 – 2/2022
4. Vgl. dazu auch Etscheid-Stams, M. Kirchenentwicklung in Zeiten des Klimawandels. Es gilt, radikale und rasante Lösungen zu finden.
5. Vgl. exemplarisch die strategische Bedeutung der Erprobungsräume in der Evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern und in der Evangelischen Kirche im Rheinland
8. Wegner G., Ekklesiogenese: Fülle, Kraft, Empowerment. Ein Plädoyer für das Anstößige des Glaubens
FORUM FREIER CHRISTEN
Zur Freiheit des Christen-Menschen
Aus dem Ernst der Zeit
muss geboren werden,
der Mut zur Tat.
Rudolf Steiner